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Schweigen bringt Lärm & Stille - Erfahrungen im Schweigeseminar

Aktualisiert: 6. Juni



Wie reagiere ich, wenn keiner mehr spricht und die vertraute Geräuschkulisse fehlt? Wie gut oder schlecht komme ich ohne Worte zurech? Bringt mir Schweigen überhaupt was?

Diese Fragen habe ich mir vor meinem ersten Besuch eines Schweigeseminars vor vier Jahren gestellt. Ich hatte davon von einer Bekannten gehört und war neugierig geworden.

 

Gleich vorweg, den erwarteten inneren Frieden habe ich (noch) nicht gefunden. Aber das kann ja noch werden. Und tatsächlich gab es auch Momente, in denen ich kurz davor war, abzubrechen. Hab ich aber nicht. Dazu später mehr.

 

Heute gehört die Teilnahme an einem Schweigeseminar zu einer meiner jährlichen Routinen, noch dazu zu einer meiner liebsten. Warum ich nicht mehr darauf verzichten möchte, erzähle ich Dir in diesem Blogbeitrag.


 

Zur Einführung: Was ist ein Schweigeseminar?

  • Ein Schweigeseminar oder -retreat ist ein Programm, bei dem die Teilnehmer*Innen für eine bestimmte Zeitspanne freiwillig auf das Sprechen verzichten. Auch während des Essens oder draußen in der Natur wird nicht gesprochen.

  • Jede*r Teilnehmer*in hat sich zum Schweigen in der Gemeinschaft committed, um sich mit sich selbst zu beschäftigen, aus dem Alltag auszusteigen oder um eine Zeit lang Schutz vor der Welt zu genießen.

  • Manche Seminare erstrecken sich über ein Wochenende, andere über 10 Tage oder sogar länger.

  • Der Ablauf umfasst stilles Sitzen auf einem Kissen oder Stuhl, z.B. am Morgen vor dem Frühstück und am Abend. Ausserdem werden Meditationen oder Übungen angeleitet. Die Seminarleitung darf also sprechen. Manchmal gibt es auch kurze Impuls-Vorträge.

 

 

Mein Weg in die Stille in 5 Etappen:

 

Etappe 1 | Meine Intuition verstärkt sich

Zu Beginn wirkt die Stille im Gruppenkontext ungewohnt, mitunter sogar unangenehm. Erst allmählich entwickelt sich eine Atmosphäre des Vertrautseins. Da alle Teilnehmer*Innen bewusst auf Sprache verzichten, lernen wir uns allein über die Körpersprache kennen. Und es erstaunt mich immer wieder, wie deutlich diese wortlosen Botschaften sprechen.


Ich nehme wahr, wie schnell und intuitiv ich mir eine Meinung über jemanden bilde. Verändert mein Gegenüber die Sitzhaltung, interpretiere ich das als Wohlbefinden und entspanne mich ebenfalls. Wählt eine Teilnehmerin beim Essen einen isolierten Platz, sehe ich darin ihren Wunsch nach Isolation.


Durch den Fokus auf die visuelle Wahrnehmung, intensiviere ich meine Intuition und innere Weisheit. So spüre ich nonverbale Verbindungsangebote in der Gruppe, aber auch Vorbehalte oder Distanz. 

Alles zählt, nichts muss. Das hat etwas Befreiendes.

 

Etappe 2 | Schweigen nimmt Druck

Die Menschen, die sich bei einem Schweigeseminar treffen, haben alle die Intention, nicht zu sprechen. Damit ist klar, dass wir uns in der gemeinsamen Zeit nicht wirklich kennenlernen werden. Das ist einerseits schade, da gerade bei einem Schweigeseminar sehr interessante Personen zusammenkommen. Andererseits empfinde ich es als erleichternd, einmal nicht reden zu “müssen”.


Niemand erwartet von mir, schlagfertig, klug oder redegewandt zu sein. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, meine ganze Aufmerksamkeit ins Aussen zu richten und mich auf mein Gegenüber einzulassen. Ich muss mich nicht anzupassen und gefällig sein. Das wirkt entlastend und spart mir viel Energie.

Stattdessen darf ich einfach ich selbst sein. Mit mir sein. Herrlich!


Gleichzeitig bringt der Verzicht auf Sprache in der Gruppe einen Freiraum. Ich schätze diesen Zwischenraum zwischen Alleinsein und Gemeinsamsein sehr.

 

Etappe 3 | Ablenkung, wo bist Du?

Meine erste große Erkenntnis des Schweigeseminars war ernüchternd: Allein dadurch, dass ich schweige, entsteht keine innere Stille. Und schon gar keine Leere.


Wenn nicht geredet wird, werden wir schnell nervös. Dann tritt sogar so etwas wie ein Fluchtreflex auf. Ein Drang, sich anderweitig zu beschäftigen. Auch bei mir taucht zu Beginn ein kraftvoller Impuls auf, mich von mir selbst abzulenken und mit irgendetwas zu beschäftigen. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Flyer im Eingangsbereich lese, das Design der Wandfarbe studiere oder an den nächsten Urlaub denke. Mein Kopf weigert sich, die Aufmerksamkeit nach innen zu richten und wahrzunehmen, was in mir los ist. Allein diesen Reflex zu bemerken, ist der Ausweg. Ich registriere, dass ich abschweife, und kann dann meine Aufmerksamkeit wieder auf mich lenken.


Die anfängliche Weigerung meines Kopfs, nach innen zu schauen, scheint mit meinem Wunsch nach Kontrolle zusammenzuhängen. Ich möchte steuern und planen können, was passiert. Den Blick nach innen zu richten, bedeutet für mich, ein Stück Kontrolle abzugeben. Das fällt mir schwer. Einzig der geschützte Rahmen des Schweigeseminars gibt mir Vertrauen. Vertrauen, dass alles gut wird. Das ermöglicht mir, los- und mich auf meine Gedanken- und Gefühlswelt einzulassen. Eine Übung, die lohnt.

 

Etappe 4 | Hilfe, es wird laut!

Während des Schweigeins zeigen sich auch ungeliebte Gedanken und Gefühle, die sonst im Verborgenen bleiben. Dann wird es innen laut. Mitunter sogar Lärm. Tausend Dinge schwirren im Kopf herum und wollen gehört oder gefühlt werden. Dann ist es eine echte Herausforderung, dabeizubleiben Besonders während des stillen Sitzens oder einer Meditation. Dann braucht es alle Kraft und viel Durchhaltevermögen.


Im letzten Retreat zu Pfingsten 2024 war es am zweiten Tag bei mir soweit. Beim Mantra Singen. Die Töne lösten eine Traurigkeit in mir aus. Tränen liefen über mein Gesicht. Ich unterdrückte den Impuls aufzustehen und den Raum zu verlassen. Um dabeizubleiben, öffnete ich die Augen, orientierte mich im Raum und konzentrierte mich darauf, geistig Dinge aufzuzählen, die ich sah. Das brachte mich aus dem Gefühl raus.


Erst später in meinem Zimmer (gut, dass ich ein Einzelzimmer habe!) liess ich die Tränen zu. Durch das Zulassen des Gefühls, auch wenn es mir schwer fiel, wurde es leichter und löste sich auf. Das machte mich dankbar und führte zu einem Gefühl der Verbundenheit mit mir und dem Leben.

Eine heilsame Erfahrung.

 

Etappe 5 | Hallo, eigene Stimme an Tanja!

Kurze Momente gelingt es mir, innerlich ruhig und klar zu werden und mit mir in Kontakt zu treten. Dann kann ich auf Gedanken horchen, die sich zeigen, bevor ich darüber spreche.


Diese letzte Etappe ähnelt einem Glas mit  Wasser, Sand und Sedimenten. Wird das Glas heftig und dauernd geschüttelt, wirbeln die Schwebeteilchen durchs Wasser. Das Wasser ist getrübt, so dass keine freie Sicht möglich ist. Steht das Glas dann still und fest, setzen sich die aufgewühlten Schwebeteilchen am Boden ab. Diese Schwebeteilchen sind meine alltäglichen Sorgen und Gedanken, die im Kopf durcheinander wirbeln und den Blick auf das Wesentliche verdecken. Im Schweigen verlieren diese Alltagssorgen an Gewicht und treten in den Hintergrund. Das Wasser wird klar und gibt den Blick in alle Richtungen frei.


Erst im Schweigen höre ich leisere Stimmen in mir und kann Wesentliches sehen, was für mich zählt. Diese leiseren Gedanken tauchen aus einer Tiefe auf und wären ohne die Stunden der Stille nicht erfahrbar. So kam mir bei einer Gehmeditation der lateinische Satz “Gaudeamus igitur” in den Sinn. Auf deutsch “Lasst uns also fröhlich sein”. Bis dahin wusste ich gar nicht, dass das zu meinem aktiven Wortschatz gehört. Ich war so überrascht, dass ich stehen bleiben musste. Das war wie ein Kreativitätsschub. Meine eigene Stimme sagt mir, wo es langgeht. Magic, mein absolutes Highlight!

 

Mein Fazit:

Schweigen ist Innehalten, um innen Halt zu finden, sich selbst zu führen und in Balance zu kommen.

Meine Empfehlung: Probiers aus! (Und erzähle mir von Deinen Erfahrungen)

 

 

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